Leserkommentar zum Artikel Nr. 206 - 19. 2. 2011

 

 

Sehr geehrter Herr Müller,

 

ich kann in weiten Teilen ihren Argumenten und Analysen zum Zustand unserer Demokratie und der Nichtbeachtung der Interessen weiter Teile der Bevölkerung zustimmen. Wir dürfen allerdings nicht verkennen, dass es nicht unwesentliche Teile der Bevölkerung gibt, die vom gegenwärtigen neoliberal geprägten wirtschaftlichen bzw. politischen System profitieren. Zum einen sind es hervorragend ausgebildete Selbständige u.a. in der Beraterbranche, zum anderen hoch- und höchstqualifizierte Mitarbeiter für die sich noch nie dagewesene Entwicklungschancen ergeben. Diese und auch Teile anderer Bevölkerungsgruppen haben keinen Grund das wirtschaftliche und politische System kritisch zu hinterfragen, da sie von diesem System profitieren.

Zu den Bevölkerungsgruppen, welche durch die wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre und Jahrzehnte Nachteile erlitten haben, zählen in erster Linie die immer noch große Zahl von Arbeitnehmern mit geringer bis mittlerer Qualifikation, ferner aber auch viele Kleingewerbetreibende sowie auch Angehörige freier Berufe. Auch der Mittelstand ist mittlerweile vom möglichen sozialen Abstieg nicht mehr gefeit.

Im Grunde genommen sind diejenigen, die in der Lage und gewillt sind die Strukturen,Prozesse und Zusammenhänge des gegenwärtigen wirtschaftlichen Systems zu erkennen und kritisch zu hinterfragen nicht diejenigen die die größten Nachteile davon zu befürchten haben. Der überwiegende Teil unserer Bevölkerung wird vielleicht erkennen, dass etwas nicht mehr so läuft wie es eigentlich laufen sollte, die komplexen Ursachen dahinter wird er aber nicht erkennen können oder wollen.

Mein Eindruck, den ich auch in vielen Gesprächen mit teils akademisch ausgebildeten Mitbürgern gewonnen habe ist, dass viele Menschen nach einfachen und bequemen Erklärungen suchen. Da man sich die komplexe Wirklichkeit nicht erklären kann sucht man nach meist monokausalen Ursachen für die Misere.

Ein gutes Beispiel hierfür ist die fulminante Resonanz der Bevölkerung auf das Buch von Thilo Sarrazin "Deutschland schafft sich ab". Die Thesen in dem Buch treffen zum einen auf immer schon bestehende zum Teil latente Vorurteile in allen Bevölkerungsgruppen. Zum anderen scheint es bequemer die Schuld für die Misere unserer Gesellschaft auf irgendwelche gesellschaftlichen Randgruppen zu schieben anstatt sich mit den komplexen politischen Entscheidungsprozessen sowie mit den noch schwieriger zu verstehenden ökonomischen Entwicklungen zu beschäftigen, welche in den letzten zwei Jahrzehnten wesentlich dazu beigetragen haben, dass die Gesellschaft in den Zustand geriet in dem sie sich heute befindet.

Die grundlegende Schwierigkeit liegt m. E. darin, dass die weiterhin nationalstaatlich organisierten und demokratisch legitimierten politischen Systeme immer weniger in der Lage sind auf Entwicklungen zu reagieren, die sich immer stärker außerhalb ihrer Einflusssphäre auf supranationaler Ebene abspielen.

Freundliche Grüße

geosprint

 

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